Das Bezirksgericht Brugg hatte in diesem Fall wahrlich keine einfache Position. Denn: Der Chauffeur, der auf der Anklagebank sass, hätte ursprünglich dort gar nicht Platz nehmen sollen. So sah es zumindest die Staatsanwaltschaft – doch es kam anders.
Gefährlicher Spurwechsel
Was war genau passiert? Im Mai 2022 geschah auf einer Kreuzung in Brugg ein tödlicher Unfall, dessen Hergang durch Aufnahmen von Überwachungskameras gut dokumentiert ist. Der Lastwagen stand in einer Kolonne vor der Ampel auf der Einspurstrecke, um bei der Kreuzung links abzubiegen. Ein Mofafahrer fuhr rechts an der stehenden Kolonne vorbei – allerdings nicht auf der Einspurstrecke, was legal gewesen wäre, sondern auf der Spur für jene, die an der Kreuzung geradeaus fahren wollen. Er hatte aber ebenfalls die Absicht, links abzubiegen, und nutzte die falsche Spur quasi als Überholspur. Dann überfuhr er unvermittelt die ausgezogene Linie und fuhr direkt vor den Lastwagen, der inzwischen losgefahren war und sein Abbiegemanöver vollzog. Der 63-jährige Mofafahrer wurde vom Lkw erfasst und starb an den Folgen des Unfalls. Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach eröffnete ein Strafverfahren gegen den Chauffeur wegen fahrlässiger Tötung, stellte das Verfahren allerdings ein. Dem Chauffeur könne keine unfallkausale Sorgfaltspflichtverletzung nachgewiesen werden. Der Chauffeur hätte den Mofafahrer nicht im Frontspiegel sehen und nicht vorsorglich nachschauen müssen, dies unter anderem wegen des «krass verkehrsregelwidrigen» Verhaltens des Mofafahrers.
Beschwerde gutgeheissen
Angehörige des Mofafahrers reichten darauf aber Beschwerde ein, die vom Aargauer Obergericht gutgeheissen wurde. Die Staatsanwaltschaft könne nicht ausreichend belegen, dass der Chauffeur seiner Sorgfaltspflicht genügend nachgekommen sei, hiess es in der Begründung. Oder anders ausgedrückt: Die Staatsanwaltschaft hat gemäss Obergericht nicht genügend abgeklärt, ob der Chauffeur den Mofafahrer früher hätte sehen können. Diese Frage ist bei der Beurteilung eines Unfalls natürlich berechtigt. Wenn das Obergericht Mängel an der Untersuchung feststellt, darf es die Staatsanwaltschaft dafür rügen, die dann nochmals über die Bücher muss.
Ein weiterer Punkt in der Begründung war dann aber brisant: «Das Benützen des anderen Fahrstreifens auf einer Einspurstrecke zwecks Vorbeifahrens an einer Kolonne stellt eine häufig begangene Verkehrsregelverletzung von Rad- und Motorradfahrenden dar, die deshalb nicht aussergewöhnlich ist und mit der gerechnet werden muss.» Damit beurteilte das Obergericht eine krasse und, wie der Fall Brugg leider beweist, lebensgefährliche Verletzung der Verkehrsregeln als üblich, weil sie von gewissen Zweiradfahrenden oft begangen wird.
«Verschulden sehr gering»
Der Staatsanwaltschaft blieb nichts anderes übrig, als das Verfahren wieder aufzunehmen und Anklage zu erheben. Ein Gutachten hat ergeben, dass der Chauffeur den Mofafahrer nicht direkt hat sehen können; dies sagte der Präsident des Bezirksgericht gegenüber der Aargauer Zeitung. Er hätte ihn aber während einiger Sekunden im Aussenspiegel und im Frontspiegel sehen können, wenn die Sicht nicht durch in der Kabine angebrachte Plüschwürfel beeinträchtigt gewesen wäre. Die Staatsanwaltschaft forderte wegen fahrlässiger Tötung und Führen eines wegen der Plüschwürfel nicht betriebssicheren Fahrzeugs eine bedingte Freiheitsstrafe von 10 Monaten. Das Urteil des Bezirksgerichts blieb aber unter dieser Forderung und verhängte eine bedingte Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu 140 Franken und einer Busse von 400 Franken. Es hielt dazu fest: «Wir sehen das Verschulden als sehr gering an.»
Keine Schuldkompensation
Das Bezirksgericht Brugg hat die beiden Verschulden, das haarsträubende Manöver des Mofalenkers sowie die vom Chauffeur angebrachten Plüschwürfel, getrennt. Tatsächlich gibt es im Strafrecht keine Schuldkompensation. Will heissen: Das Fehlverhalten des Mofalenkers hat keinen Einfluss auf das, was man dem Chauffeur zur Last legt. Das Bezirksgericht Brugg hat sein Urteil entsprechend dieser Vorgabe gefällt – und gleichzeitig nicht bestritten, dass das Vergehen des Chauffeurs im Vergleich zu jenem des Mofalenkers sehr gering war.
Sicherheit wird so nicht erhöht
Was dieser Unfall und seine juristische Aufarbeitung zeigt, ist dies: Es ist tatsächlich auch den Gerichten bekannt, dass es häufig begangene Verkehrsregelverstösse durch Rad- und Motorradfahrende gibt – auch haarsträubende. Dies bezieht sich nicht nur auf Kinder, die Gefahren noch nicht so gut einschätzen können, weshalb bei Schulen oft Warntafeln angebracht sind und die Polizei bei Schulbeginn jeweils Sensibilisierungskampagnen durchführt. Es sind auch viele Erwachsene auf zwei Rädern, die sich durch regelwidriges Verhalten bewusst in Gefahr begeben, was die meisten Chauffeure regelmässig beobachten können und was man durchaus als infantil bezeichnen darf. Aus diesem offenbar weitverbreiteten Fehlverhalten von Erwachsenen eine Normalität zu kreieren ist fatal für die Sicherheit und gleicht einer indirekten Legitimation. Auch die besten Signalisationen, aufmerksamsten Chauffeure und besten Assistenzsysteme werden so wirkungslos.
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Text: Daniel von Känel
Foto: Kapo AG